23. August 2019

Rundbrief August 2019

Liebe Haiti-Freunde,

die Lage in Haiti wird kaum besser. Inzwischen balanciert das Land, in Annelieses Worten, am Rande eines Bürgerkriegs. Das liegt vor allem an der großen politischen Instabilität. Ende Juli ist der dritte Ministerpräsident innerhalb eines Jahres zurückgetreten, zudem werden der aktuellen und der vorigen Regierung schwerwiegende Korruption und die Veruntreuung großer Geldsummen vorgeworfen. Dazu steigt die Inflation, die Kaufkraft der Bevölkerung sinkt noch weiter. Diese Gemengelage führt im ganzen Land seit Monaten zu großen Demonstrationen und einer Eskalation der Gewalt.

Anneliese berichtet, dass kriminelle Banden zurzeit regelmäßig Warenlieferungen aus Port-au-Prince in die Umgegend ausrauben. In Meyer kam überraschenderweise ein Lastwagen unbehelligt an, die Nahrungsmittel für die Schulspeisung sind jedoch trotzdem zu knapp und auch zu teuer, um pünktlich zum Schulanfang damit zu starten. Ob die Schule im September planmäßig starten kann ist ebenfalls noch nicht sicher.

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Leben in Haiti: Jean Joseph

Wie im letzten Rundbrief angekündigt startet die Serie „Leben in Haiti“ mit einem Bericht über den 54jährigen Jean Joseph. Sein Bericht verdeutlicht die strukturellen Probleme, die in Haiti oft verhindern, dass die Menschen sich stabile Verhältnisse aufbauen, in denen sie und ihre Familien gut leben können.

Jean Joseph lebt in einem einfachen Holzhaus auf dem Land. Dort wuchs er als Sohn von Kleinbauern auf, die auf ihrem Feld das Lebensnotwendige anbauten. Inzwischen ist er selbst Vater von sechs Kindern, von denen zwei jedoch bereits starben. Er berichtet: „Das jüngste Kind war ein hübscher, aufgeweckter Junge, die ganze Hoffnung der Familie. Sein Traum war es, Ingenieur zu werden, damit er eine Straße bauen und die Region entwickeln kann. Leider ist er mit 10 Jahren gestorben. Er bekam Typhus und ich hatte kein Geld, ihn ins Krankenhaus zu bringen.“

Als die Kinder klein waren, arbeitete Jean Joseph auf dem Feld, seine Frau betrieb einen Kleinsthandel, der jedoch bankrottging. Das Geld der Familie reichte nur, um zwei der vier Kinder zur Schule zu schicken. Die finanziellen Nöte hielten Jean-Joseph nachts wach: „All die Sorgen regen auf, schneiden ins Fleisch, schmerzen bis auf die Knochen und halten einen schlaflos – sie lassen einen nicht leben!“ Auch die Ernteerträge gehen immer mehr zurück, Naturkatastrophen vernichten jede aussichtsreiche Aussaat. Nach dem Katastrophenjahr 2008 mit vier Wirbelstürmen versucht Jean Joseph auf die Schweinezucht umzusteigen, doch die Schweinepest macht den vielversprechenden Neustart wieder zunichte. Seine Frau erwartet gerade das sechste Kind, als Jean-Joseph beschließt, auf der Suche nach Arbeit die lebensgefährliche Reise in die Dominikanische Republik zu wagen: „Was würdest du an meiner Stelle tun? Meine Frau schwanger – in neun Monaten würde ich Vater von sechs Kindern sein. Was gebe ich ihnen zu essen? Wie kann ich sie großziehen? Wie werden wir leben?“

Zwei Jahre arbeitet er in der Dominikanischen Republik, wird unter anderem misshandelt und um seinen Lohn betrogen. 2011 macht er sich auf den Rückweg. Er beschreibt seine Rückkehr: „An der Grenze wurde ich überfallen und bedroht – alles was ich hatte war weg. (…) In der Nacht kam ich barfuß nach (…) Hause. Beschämt betrat ich mein Haus. Ich wusste bereits, welche Nachricht mich erwartete – eine Gute und eine Böse. Mein jüngstes Kind war geboren worden, als ich in der Dominikanischen Republik war, aber mein zweitältester Sohn starb, als es bei einer Lebensmittelausgabe nach dem Erdbeben 2010 zu Tumulten kam. Es war nur das Baby, das sich freute, mich zu sehen. In der Nacht bin ich an das Grab meines Sohnes gegangen und habe geweint. Alle Flüssigkeit in meinem Körper floss aus den Augen, aber das war nicht genug, um meinen Schmerz zu stillen.“

Seit seiner Rückkehr arbeitet Jean Joseph als Gelegenheitsarbeiter, doch die Löhne sind zu gering, um die Familie zu ernähren. Er ist jetzt 54 Jahre alt und schaut pessimistisch in die Zukunft: „Ich schaue auf meine Kinder, die groß werden, ohne dass ich etwas für sie tun kann. Ich schaue auf meine Frau, die älter aussieht, als sie ist. Ich schaue auf das Haus, das kaputt ist und das ich nicht reparieren kann. Ich schaue auf meinen Ort und mein Land, die in Gefahr sind. (…) Ich bin ein Vater wie andere Väter – ich liebe meine Kinder. Ein verantwortlicher Vater – aber einer, der nichts tun kann.“  

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30 Jahre ECODEM

Im Oktober 1989 wurde die ECODEM gegründet – Zeit für einen kleinen Rückblick im nächsten Rundbrief. In Verbindung mit dem nächsten Beitrag der Serie „Leben in Haiti“ wird der Lehrer Silien Blindy die Gründung der Schule und Annelieses Wirken in der Region in einem Bericht nachzeichnen.

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Berichte auf der Website

Weil die Berichte für den Rundbrief zu lang sind, erscheinen sie hier in gekürzter oder zusammengefasster Form. Auf der Website www.foundation-ev.de werden alle Berichte in Langform veröffentlicht. Wir wünschen eine spannende Lektüre und freuen uns, wenn Sie Annelieses Arbeit in Haiti weiter unterstützen.

Thomas Wiedmann, 1. Vorsitzender

Text & Redaktion: Janina Lea Gutmann