8. September 2019

Der Bericht Jean Josephs in Langform

Hier finden Sie die Langform des Berichts von Jean Joseph aus dem Rundbrief von August 2019. Der Bericht wurde Anneliese auf haitianisch erzählt, von ihr auf deutsch übersetzt und handschriftlich auf vier DIN A4-Seiten geschrieben. Diese vier Seiten wurden dann von J.L. Gutmann abgetippt, um den Bericht im Rundbrief und auf der Website darstellen zu können. Der vollständige Bericht ist hier in kursiver Schrift wiedergegeben, in Klammern finden sich in normaler Schrift einige Erklärungen. Die manchmal etwas speziellen Formulierungen des Berichts erklären sich aus der Übersetzung des haitianischen Texts ins Deutsche.

Ich heiße Jean Joseph. Seit ich ganz klein war, lebe ich auf dem Land. Das Haus, in dem wir wohnen, ist klein und aus Holz. Ganz oben weit auf einem Berg inmitten von Gärten (kleine Randstücke) in der Gegend von Grand Goave (Bezirksstädtchen). Mein Vater bearbeitete ein kleines Feld, welches uns mit dem Lebensnotwendigen versorgte. Das war, wie die Leute heute sagen, vor langer Zeit, als die Zeit noch gut war. Jetzt ist mein Vater seit 30 Jahren tot und ich bin selber Vater.

Ich habe vier Kinder, ein Mädchen und drei Buben. Genauer gesagt hatte ich sechs, zwei sind gestorben. Eines davon, das Jüngste, war ein hübscher, aufgeweckter Junge, die ganze Hoffnung der Familie. Sein Traum war Ingenieur, damit er eine Straße bauen und die Zone entwickeln kann. Leider ist er mit zehn Jahren gestorben. Er bekam Typhus und ich hatte kein Geld, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Das Leben hier ist nicht einfach. Wir müssen ums Überleben kämpfen. Täglich fragen wir uns, wie es morgen sein wird, wenn es wirklich ein Morgen gibt. Tagsüber arbeite ich hart – am Abend liege ich im Bett und überlege, wie ich zwei von meinen Kindern zur Schule schicken kann. Kleider, Schuhe, Essen für die zwei Jüngsten kaufen und die zwei Großen, die keine Chance haben zur Schule zu gehen, zu versorgen, ist nicht leicht. Meine Frau jammert, dass ihr Kleinsthandel bankrott ist und sie einigen Leuten aus der Gegend Geld schuldet und die sie deswegen nicht in Ruhe lassen. All das regt auf „schneidet ins Fleisch, schmerzt bis auf die Knochen“ und hält einen schlaflos – lässt einen nicht leben! Früher hatte man eine Büchse Bohnen (3 kg) gepflanzt und 10 zurückbekommen. Heute pflanzt man zehn und bekommt manchmal nicht eine zurück. Das Leben steht Kopf, alles geht bergunter. Die Natur hat sich gewandelt, ihr Charakter gegenüber Mensch und Tier ist schlecht. Der Feldarbeiter geht mit hängenden Armen. Er weiß nicht mehr, ob die Hühner auf die Bäume oder runter gehen (ein haitianischer Ausdruck für Hoffnungslosigkeit). So werden die Probleme täglich größer. Die Sorgen steigen, als ob wir nicht schon genug hätten.

Das Jahr 2008 war das Jahr vier großer Wirbelstürme. Die Ernten gingen verloren, sei es wegen der Stürme, Überschwemmungen oder Trockenheit. Das alles trieb mich zur Entscheidung, kein Feld mehr zu bestellen. Ich habe einen Teil des Ackers verkauft und mit dem Erlös wollte ich in die Schweinezucht einsteigen. Das war nicht schlecht und in relativ kurzer Zeit hatte ich 14 Schweine. Mit dieser Zukunft sah ich alle meine Kinder zur Schule gehen, mich mein Haus reparieren, welches am Umfallen war und es sogar auf den ersten Januar hin anzustreichen (der 1. Januar ist der Unabhängigkeitstag Haitis). Die Freude kehrte in mein Herz zurück. Dies alles war in meinen Gedanken, als ich des Nachmittags die Schweine beim Fressen beobachtete. Ich brauche bestimmt nicht zu erwähnen, dass ich in der Nacht gut schlief. Ich glaube, da wurde auch meine Frau mit dem letzten Kind schwanger. Und dann schlug die Schweinekrankheit zu. Eine Krankheit, welche die Tiere zittern und nicht mehr aufstehen ließ. Das Landwirtschaftsministerium meldete übers Radio, dass das geschah, weil die Tiere nicht geimpft waren. Meine Güte, wir als Menschen hier sind nicht alle geimpft – wie sollten es da die Schweine sein? Nach fünf Tagen war nicht einmal mehr eine Borste übrig. Alle sind eingegangen.

Was würdest du an meiner Stelle tun? Meine Frau schwanger – in neun Monaten würde ich Vater von sechs Kindern sein. Was gebe ich ihnen zu essen? Wie kann ich sie großziehen? Wie werden wir leben? Mit all diesen Fragen fragt ihr mich sicher nicht, wie ich mich fühle.

Das Leben muss weitergehen und so entschloss ich mich 2009, in die Dominikanische Republik zu gehen. Ich habe mein Leben riskiert als ich (an der Grenze) „unter dem Bart des Soldaten“ im Gebüsch lauerte. Einige in unserer Gruppe verloren ihr Leben. Mehrere Tage habe ich dem Tod ins Auge geschaut, aber dann überlistete ich ihn. Zwei Jahre habe ich in der Dominikanischen Republik Zuckerrohr geschnitten. Während ich dort war, hat es in Haiti (die Erde) geschüttelt [das Erdbeben 2010]. Eines Tages hat mich ein Weißer mit der Machete verwundet – ich arbeitete ihm zu wenig. Er hätte mich fast umgebracht, aber Gott rettete mich. Jedes Mal, wenn Zahltag war, schickten sie mich auf die Einwanderungsbehörde, wo sie mir vorwarfen, dass ich keine Papiere hätte. Ich sollte ausgeliefert werden. Schlussendlich gelang es mir doch, etwas Geld zusammenzubringen und davon zwei Kälber zu kaufen, mit denen das Leben wieder beginnen sollte. Am 24. November 2012 kehrte ich nach Haiti zurück.

An der Grenze wurde ich überfallen und bedroht – alles was ich hatte war weg. Ich bin 3 Tage gelaufen – entwurzelt und zornig. Ich hasste das Land, mich selbst und das Leben. In der Nacht kam ich barfuß nach Morin auf dem Berg über Grand Goave. Beschämt betrat ich mein Haus. Ich wusste bereits, welche Nachricht mich erwartete – eine Gute und eine Böse. Mein jüngstes Kind wurde geboren, als ich in der Dominikanischen Republik war, aber mein zweitältester Sohn starb, als es bei einer Lebensmittelausgabe der PAM (programme alimentaire mondiale = das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen) nach dem Erdbeben 2010 zu Tumulten kam. Es war nur das Baby, das sich freut, mich zu sehen. In der Nacht bin ich auf das Grab meines Sohnes gegangen und habe geweint. Alle Flüssigkeit in meinem Körper floss aus den Augen, aber das war nicht genug, um meinen Schmerz zu stillen.

Am anderen (nächsten) Morgen ging ich los, man sagt „Hoffnung lässt leben“, aber hier muss man die Hoffnung suchen. Ich suchte nach Möglichkeiten, um nicht verrückt zu werden. Jede Menge Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, aber ich hatte Kinder und auch meinen Stolz… An diesem Abend betrat ich das Haus mit leeren Händen. Alle mussten ohne zu essen schlafen (gehen).

Ich fragte weiter nach Arbeit. Egal was – ich machte alles, was mir Geld für einen Tag gibt. Nur sind es viele Leute, die Arbeit suchen, sodass der Tageslohn immer geringer wurde. Mit dem, was herauskam, konnte man nichts machen. Manchmal gab es ein paar gute Menschen, die mir eine Schüssel Essen gaben. Die nahm ich mit nach Hause für meine Frau und Kinder. Und für mich? Seit langem bin ich es gewohnt, ohne Essen auszukommen.

Ich bin 54 Jahre alt und habe 4 Kinder. Ich habe nicht mehr viel Zeit vor mir. In meinem Land leben die Menschen nicht lange. Hier schimpfen sie auf Leute von „hinter dem Berg“, weil wir nicht in das System der Politik passen, das das Land regiert. Die einzige Hilfe die wir haben ist Gott. Meine Hoffnung ist, diese Erde zu verlassen und in seine Ruhe einzugehen. Ich glaube daran, und das ist es, was mich hält.

Aber jetzt habe ich viele Probleme. Ich schaue auf meine Kinder, die groß werden, ohne dass ich etwas für sie tun kann. Ich schaue auf meine Frau, die älter aussieht, als sie ist. Ich schaue auf das Haus, das kaputt ist und das ich nicht reparieren kann. Ich schaue auf meinen Ort und mein Land, die in Gefahr sind. Ich habe Angst, dass eines der Kinder Kopfschmerzen kriegt und denke an meinen hübschen Jungen, der auf dem Friedhof liegt, weil ich kein Geld hatte, ihn ins Krankenhaus zu bringen.

Ich bin ein Vater wie andere Väter – ich liebe meine Kinder. Ein verantwortlicher Vater – aber einer, der nichts tun kann. Ich bin ein Vater, der in Angst lebt, ich fühle „das Blut in meinen Adern zittern“ (hait. Sprichwort). Es ist 2019 und ich habe Angst zu sterben mit der Hoffnungslosigkeit für meine Kinder.