26. November 2021

Rundbrief November 2021

Liebe Haiti-Freunde,

die Nachrichten im letzten Rundbrief waren schon nicht gut. Aber spätestens seit der Ermordung des Präsidenten im Juli ist deutlich, wie groß die Krisen in Haiti sind: politisch, wirtschaftlich, sozial, sicherheitspolitisch und humanitär ist das Land seit langem im Ausnahmezustand. Das Erdbeben im August war da nur ein weiterer Tropfen in ein längst überlaufendes Fass. Auch die Pandemie wütet weiterhin ungebremst, jedoch von der Bevölkerung wenig beachtet. Neben den üblichen Problemen ist zurzeit der Benzinmangel zentral, wie auch Anneliese in ihrem Bericht schreibt. Nachdem kürzlich endlich wieder Benzin geliefert wurde, brach um die Verteilung Chaos aus. Die chaotische Lage im Land wird auch in Annelieses Bericht deutlich.

Bericht von Anneliese Anfang November

Als ich damals versuchte, 40 Jahre Haiti in die „Nussschale“ zu verpacken, kam ich mit einer Kokosnuss aus. Um die momentane Lage nur 40 Tage lang zu beschreiben, braucht es ein Fass (ohne Boden).

War vor seiner Ermordung des Präsidenten an allem Schuld, ist nun keiner zuständig und die Anarchie bekam freie Bahn. Martissant, ein dichtbevölkertes Viertel in Port-au-Prince und die einzige Durchgangsstrecke zu den fünf südlichen Departements Haitis, wurde von Banditen beschlagnahmt. Laut Statistik gibt es 162 verschiedene Gruppen mit ca. 3000 „Soldaten“ (Banditen). Jede von ihnen macht der anderen Konkurrenz bzw. bringt sich gegenseitig um. Die Bevölkerung, die sich im Sperrfeuer wiederfindet, verlässt bei Nacht und Nebel die Behausung und richtet sich in Hallen oder großen Räumen in der Stadt Carrefour ein. Nahrung, Wasser, Kleidung – Fehlanzeige. Von einer Frau weiß ich, welche nach ein paar Tagen zurückging, um Papiere und Kleidung für ihre Kinder zu holen, und ihr Haus von einem Banditen mit Freundin besetzt vorfand. Er gestattete ihr, schnell ein paar Sachen einzupacken, verbot ihr aber, zurückzukommen.

Die Blockade von Martissant erstreckt sich auf alles, einfach alles: Schüler können nicht mehr zur Schule nach Port-au-Prince, Waren aller Art kommen nicht durch. Lebensmittel sind teuer und vieles ist nicht zu haben. Das letzte Mal, als ich einkaufen war, musste ich auf „schnell“ machen, weil der Besitzer schließen wollte – ich nehme an, er hat eine Drohung erhalten.

Schon seit Wochen ist das Benzin nur noch auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu bekommen. Der Preis einer Gallone stieg von 60 haitianischen Dollar (h$) auf bis zu 500 h$. Gestern habe ich vier Gallonen à 200 h$ ergattert. Der hiesige Warentransport kam fast zum Erliegen mit der Folge, dass die Felderträge kaputt gehen, weil sie nicht verkauft werden können.

Die von der Regierung versprochenen Benzintransporte wurden von den Banditen vereitelt: Sieben Tankwagen wurden umgeleitet und die Fahrer als Geiseln genommen. Apropos Geiseln: Die 17 Missionare, die Mitte Oktober gekidnappt wurden, sind noch immer nicht frei. Geiseln werden aus allen Bevölkerungsschichten genommen, aus Kirchen, Schulen und von zu Hause.

Noch kurz zu den weiteren Auswirkungen des Bezinmangels: Krankenhäuser können nicht arbeiten. Von den 92 Ambulanzen haben nur 30 funktionieren können, in ganz Port-au-Prince gab es davon nur vier. Das größte Krankenhaus hat nur leere Tanks und die paar Sonnenpanele laden die Batterien für Kühltruhen, in denen u.a. 2000 Corona-Ampullen aufbewahrt werden. Corona wird leider von den meisten nicht wahrgenommen. Obwohl Aufrufe in Funk und anderen sozialen Medien stattfinden, geht das den Einzelnen hier nichts an.

Die Banken werden nur noch drei Tage pro Woche den Schalter öffnen, um der Benzinkrise entgegenzuwirken. Der Mobilfunkanbieter Digicel hat ebenfalls angekündigt, dass nur noch 15% der Antennen funktionieren. Unsere Lehrer, die kommen konnten, mussten den vierfachen Fahrpreis entrichten. Lehrer aus dem Hauptstadtbereich mussten zu Hause bleiben, einmal wegen Martissant und weil keine Autos bzw. Motorradtaxis fuhren.

Gestern starb die Frau eines Pastors unter anderem, weil sie nicht in ein Krankenhaus in Port-au-Prince gebracht werden konnte. Kein Benzin, kein Durchkommen auf den Wegen und der Helikopter des Krankenhauses war kaputt. Sie war ursprünglich in einem Krankenhaus in Carrefour, aber dort konnten sie nicht mehr helfen, auch weil der Sauerstoff leer war. Das Paar war gerade ein Jahr verheiratet und das Kind, mit dem sie schwanger war, starb mit ihr. Daniel weinte, als er sagte dass das Kind noch lebte als seine Mutter schon tot war. „Wenn ich es doch nur als einen Teil von ihr hätte haben können.“

Das Erdbeben vom August hat wohl in einem anderen Land stattgefunden – man hört nichts mehr. Weil die Banditen – obwohl versprochen – keine Transporte durchließen, wurden die Hilfsaktionen von Flugzeugen geleistet und was mit dem Schiff kam wurde direkt an den Hafen von Jérémie geliefert.

Hier in Meyer haben wir die ersten Prüfungen absolviert. Am 8. November hat die Schule wieder angefangen. Lebensmittel für die Speisung haben wir bis zu den Weihnachtsferien.

Wir sagen Danke für Ihre Treue auch in diesem Jahr und wünschen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr. Unsere Gedanken und Gebete sind bei Anneliese und den Menschen in Haiti.